Was macht eine erfahrene Führungskraft aus? Eines wissen wir sicher: Es geht nicht um eine ausgefallene Berufsbezeichnung, oder darum, wie lange jemand schon arbeitet. Im Gegenteil, fortgeschrittene Führung geht weit über diese oberflächlichen Dinge hinaus. Vielmehr geht es darum, eine Haltung zu kultivieren, die stets darauf bedacht ist, zu lernen, zu reflektieren und zu wachsen. In diesem Artikel beleuchten wir die Merkmale einer erfahrenen Führungskraft sowohl aus psychologischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht. Wir nutzen die Erkenntnisse des Leadership Maturity Framework von Dr. Susanne Cook-Greuter, eine führende Expertin auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung.

Was eine erfahrene Führungskraft ausmacht

Im Kern ist fortgeschrittene Führung ein Ansatz, der über die oberflächlichen Ebenen von Autorität und Status hinausgeht. Es geht weniger um die Anzahl der Mitarbeitenden, die dir unterstellt sind, oder um die Bedeutung deiner Rolle in der Organisationshierarchie, sondern vielmehr um die Tiefe deines eigenen Selbstverständnisses, deines Verständnisses von anderen und den Systemen, in denen du dich bewegst. Eine erfahrene Führungskraft begreift Führung als eine Reise des ständigen Wachstums und Lernens. Sie zeichnet sich nicht durch ihre Titel aus, sondern durch ihr unermüdliches Streben nach Selbstverbesserung und ihre Fähigkeit, Veränderungen über die Grenzen ihres unmittelbaren Umfelds hinaus anzustoßen.

Das Leadership Maturity Framework

Das Leadership Maturity Framework, das auf der Theorie der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger basiert und durch die Forschungen von Dr. Susanne Cook-Greuter weiter verfeinert wurde, bietet einen umfassenden Rahmen, mit dem die Entwicklung von Führungsfähigkeiten betrachtet werden kann. Dieser Rahmen legt nahe, dass die Entwicklung von Führungskräften im Wesentlichen eine Reise durch verschiedene Stufen der Ich-Entwicklung ist. Jede Stufe steht für ein breiteres und differenzierteres Verständnis von sich selbst und der Welt. Wir schauen uns die Stufen im Detail an: 

Impulsives Stadium:

Führungskräfte in dieser Phase werden oft von ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen angetrieben. Sie sind möglicherweise kurzfristig orientiert und reagieren impulsiv auf Herausforderungen, anstatt überlegt zu handeln. 

Beispiel: Ein Vorgesetzter weist Projektaufgaben aufgrund persönlicher Bevorzugung voreilig neu zu, ohne die Teamdynamik oder die Projektanforderungen zu berücksichtigen.

Konformistisches Stadium:

Führungspersönlichkeiten in diesem Stadium orientieren sich stark an den Erwartungen und Normen ihrer Gruppe oder Organisation. Sie suchen nach Anerkennung und sind motiviert, sich in ihre Rolle einzufügen und sie zu erfüllen. 

Beispiel: Ein Teamleiter hält sich strikt an die Unternehmensrichtlinien, ohne deren Wirksamkeit zu hinterfragen, und versucht, es der Unternehmensleitung recht zu machen.

Stadium des Selbstbewusstseins:

In dieser Phase beginnen die Führungskräfte, über ihre eigenen Überzeugungen und Motivationen nachzudenken. Sie erkennen den Wert der Individualität im Kontext der organisatorischen Rollen. 

Beispiel: Eine Abteilungsleiterin ermutigt die Teammitglieder, ihre individuellen Sichtweisen zur Verbesserung der Arbeitsabläufe mitzuteilen, da sie die Bedeutung der verschiedenen Standpunkte anerkennt.

Leistungsorientiertes Stadium:

Führungspersönlichkeiten sind auf Effizienz, Leistung und Zielsetzung fokussiert. Sie sind versiert in strategischer Planung und streben nach Leistungsoptimierung. 

Beispiel: Ein CEO verfolgt ehrgeizige, aber erreichbare Ziele für das Unternehmen und setzt eine klare Strategie und Erfolgskennzahlen um.

Individualistische Phase:

In dieser Phase legen die Führungskräfte Wert auf Einzigartigkeit und Authentizität. Sie sind an einem persönlichen und organisatorischen Wandel interessiert und bereit, Normen in Frage zu stellen. 

Beispiel: Eine Innovationsmanagerin fördert eine Kultur der Kreativität und Risikobereitschaft und ermutigt zu Experimenten, auch wenn sie scheitern könnten.

Strategische Phase:

Führungskräfte verfügen über ein tiefes Verständnis systemischer Komplexität und sind geschickt im Umgang mit Mehrdeutigkeiten. Sie denken langfristig und systemübergreifend. 

Beispiel: Ein Unternehmensleiter initiiert eine Partnerschaft mit Konkurrenten, um eine gemeinsame branchenweite Herausforderung zu bewältigen. Dabei denkt er über traditionelle Grenzen hinaus.

Alchemisten-Stufe:

Auf dieser Stufe zeigen Führungskräfte Weisheit, Mitgefühl und ein tiefes Verständnis für Zusammenhänge. Sie stoßen transformative Veränderungen an, indem sie in Einklang mit ihren Werten handeln. 

Beispiel: Eine weltweit tätige NGO setzt sich unermüdlich für die Bekämpfung des Klimawandels ein. Sie nutzt ihre fundierten Erkenntnisse über menschliche und ökologische Systeme, um globale politische Veränderungen voranzutreiben.

Auf den ersten Ebenen des Modells können konventionelle Erfolgsmetriken – Titel, Auszeichnungen und äußere Zeichen der Autorität – die Führungsrolle definieren. Mit fortschreitender Reife verschiebt sich jedoch der Schwerpunkt. Fortgeschrittene Führungsqualitäten entstehen auf den höheren Stufen der Ich-Entwicklung, wo Führungskräfte eine tiefgreifende Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Empathie und ein differenziertes Verständnis komplexer Systeme zeigen. Diese erfahrenen Führungskräfte sind geschickt im Umgang mit Mehrdeutigkeit, begrüßen Paradoxien und fördern ein Umfeld, in dem Lernen und Wachstum an erster Stelle stehen.

Von seniorer Führungskraft zur erfahrenen Führungskraft

Der Übergang von einer senioren Führungskraft zu einer erfahrenen Führungskraft ist nicht durch eine Beförderung oder eine Erhöhung der Anzahl der direkten Mitarbeitenden gekennzeichnet. Er ist vielmehr durch einen Perspektivwechsel geprägt- vom Führen mit Autorität zum Führen mit Authentizität, vom Erzwingen der Einhaltung von Vorschriften zum Ermächtigen anderer und von der Konzentration auf individuelle Leistung zum Engagement für kollektives Wachstum. Eine erfahrene Führungskraft zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tief verwurzelte Annahmen in Frage zu stellen, sowohl ihre eigenen als auch die der Organisationen. Sie kultiviert ein Umfeld, in dem das Infragestellen des Status quo gefördert wird, wodurch Innovation und Anpassungsfähigkeit begünstigt werden.

Hauptmerkmale für eine erfahrene Führungskraft

Eine erfahrene Führungskraft weist mehrere charakteristische Merkmale auf, die sie auszeichnen:

• Kontinuierliche Reflexion: Eine erfahrene Führungskraft führt eine kontinuierliche Selbstreflexion und Feedback durch und engagiert sich für persönliches und berufliches Wachstum.
• Systemorientiertes Denken: Eine erfahrene Führungskraft besitzt die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen und zu verstehen, wie verschiedene Elemente innerhalb eines Systems zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen.
• Emotionale Intelligenz: Ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz ermöglicht es einer erfahrenen Führungskraft, komplexe zwischenmenschliche Dynamiken mit Einfühlungsvermögen und Geduld zu bewältigen.
• Anpassungsfähigkeit: Eine erfahrene Führungskraft ist beweglich und in der Lage, ihren Führungsstil an die sich wandelnden Bedürfnisse ihres Teams und des externen Umfelds anzupassen.
• Visionäres Denken: Eine erfahrene Führungskraft hat eine klare Vision für die Zukunft und verfügt über den strategischen Scharfsinn, um den Weg dorthin zu finden.
• Investitionen in Wachstum: Eine erfahrene Führungskraft ist bescheiden und ehrgeizig zugleich. Sie sucht immer nach Möglichkeiten, etwas Neues zu lernen, sich selbst herauszufordern und sie schämt sich nicht, zuzugeben, dass sie nicht alles wissen.

Wie du eine erfahrene Führungskraft wirst

Der Weg zu einer erfahrenen Führungskraft ist nicht nur einigen wenigen vorbehalten, sondern kann von jedem beschritten werden, der bereit ist, in seine persönliche Entwicklung zu investieren. Dieser Weg erfordert die Bereitschaft, sich selbst herauszufordern, die eigene Komfortzone zu verlassen und lebenslanges Lernen zu betreiben. Dazu gehört es, Feedback einzuholen, Misserfolge als Lernchance zu begreifen und eine Denkweise zu kultivieren, die auf kontinuierliche Verbesserung ausgerichtet ist.

Das Geheimnis einer erfahrenen Führungskraft liegt vor allem in der Erkenntnis, dass Führung kein Titel oder eine Position, sondern eine Haltung ist. Außerdem geht es darum, wie man sich auf die Welt einlässt, wie man aus Erfahrungen lernt und sowohl nach innen als auch nach außen reflektiert.

Ein konkreter Schritt, der dir auf deinem Weg helfen kann, ist die Suche nach Führungskräften in deinem Unternehmen, die auf dem Weg zur erfahrenen Führungskraft schon weiter sind als du selbst. Bitte diese Führungskräfte, dir als Mentor zur Seite zu stehen, oder reflektiere mit ihnen über die Herausforderungen der Führung. Frage sie, wie sie über bestimmte Probleme denken, sei spezifisch oder allgemein, oder lass sie deine Gedanken in Frage stellen.

Ein weiterer Schritt, der hilfreich sein kann, ist, sich selbst Zeit zur Reflexion zu nehmen. Welche Werte leiten mich in meinem Handeln? Haben sich diese im letzten Jahr verändert? Wie wäre eine erfahrene Führungskraft mit dieser speziellen Situation umgegangen? Wie bringe ich die verschiedenen Facetten meiner Führungsrolle unter einen Hut? Welche Prioritäten setze ich und warum? Wir müssen also darüber nachdenken, wer wir sind, was wir tun und warum wir es tun. So können wir unsere Erfahrungen integrieren, aus ihnen lernen und dem näher kommen, was wir als Führungskraft sein wollen.

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Author: Svenja Haus (Dipl.-Psychologin, Coach)